Stirb nicht im Warteraum der Zukunft -- Interview mit Tim Mohr

Nachstehend ein Interview mit Tim Mohr, dem Autor von Stirb nicht im Warteraum der Zukunft -- Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer, das ich im Sommer 2017 geführt habe. Erschienen im TRUST # 186.

Aufmerksamen Leser der Nummer 185 wird in der Besprechung von Stirb nicht im Warteraum der Zukunft – einem absolut famosen Buch zum Thema Zonenpunk – aufgefallen sein, dass der Rezensent, also ich, anfänglich Zweifel an Kompetenz, Background und Darstellungsweise des US-amerikanischen Autors hatte. Schon nach der ersten Lektüre hätte ich mein Rezensionsexemplar eigentlich nicht mal mehr als „worn“ bei Ebay verkaufen können, da es voll von handschriftlichen Anmerkungen und Kommentaren, von Unterstreichungen, großen Ausrufe- und Fragezeichen durchzogen war. „Was für ein Käse!“ stand da manchmal am Rand, ebenso „das klingt antikommunistisch“ aber auch immer wieder „Großartig!!!“ oder „Hammer!“. Wenn ein Buch so viel mit einem macht, wenn es in der Lage ist, einen so sehr über die eigene Sozialisation und die Wahrnehmung der persönlichen Vergangenheit grübeln zu lassen, dann, so dachte ich, wäre vielleicht ein Gespräch mit dem Autor angezeigt. Zu meinem und auch zu eurem Glück, erwies sich der Mann als sehr netter Gesprächspartner. Im Folgenden nun also ein Interview mit Tim Mohr, dem Autor von Stirb nicht im Warteraum der Zukunft: Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer:

Das Wichtigste zuerst: Glückwunsch zu deinem Buch Stirb nicht im Warteraum der Zukunft. Als Punk mit DDR-Biografie habe ich deine Story regelrecht verschlungen. Wie sind die Reaktionen bisher ausgefallen?
Tim Mohr: Die bisherigen Reaktionen waren großartig. Wir haben auch eine Lesung in Berlin veranstaltet, die sich wie ein Klassentreffen anfühlte, weil so viele Leute aus der Berliner Szene da waren, unter anderen auch Mitglieder der Bands Namenlos, Planlos, Wutanfall, Antitrott und Rammstein. Der vielleicht coolste Aspekt der ganzen Angelegenheit ist die Masse an jungen Leuten, die sich für das Buch interessieren – Leute, die 1989 noch nicht mal geboren waren, aber jetzt bei meinen Lesungen auftauchen und Kontakt mit mir aufnehmen. Das freut mich enorm, weil ich stets gehofft hatte, dass diese Geschichte auch diejenigen erreicht, die sie selbst nicht erlebt haben – meiner Ansicht nach ist sie in der gegenwärtigen Lage nämlicher wichtiger als je zuvor. Neulich hat mich ein Typ aus Österreich angeschrieben, um mir zu erzählen, dass seine dreizehnjährige Tochter mein Buch gelesen und anschließend mit zwei anderen Mädchen aus ihrer Schule eine Punkband gegründet hat. Die Kleine bringt sich jetzt selbst das Bassspielen bei und schreibt Songs. Verdammt cool, oder?

Wenn ich das richtig überblicke, hast du Anfang/Mitte der Neunziger in Berlin gelebt und dort über Freundschaften mit ein paar ehemaligen DDR-Punks ein Interesse an Ostpunk entwickelt. Mehr als zwanzig Jahre später legst du jetzt diese 560 Seiten starke Bibel zum Thema Punk in der DDR vor. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Woher kam die Idee zum Buch? Wann hast du mit der Arbeit daran begonnen und wie lang hat es gedauert?
Tim: Ich glaube, die Idee, diese Story zu erzählen, spukt schon seit 1992 in meinem Kopf herum, dem Jahr, in dem mir Leute aus der Clubszene in Berlin-Mitte das erste Mal vom Ostpunk erzählten. Damals wusste ich noch nicht, dass ich später einmal Schriftsteller werden würde, aber die Story hatte es mir angetan und ließ mich nicht mehr los. Als ich dann Jahre später, nach meinem Wegzug aus Berlin, meine Brötchen als Schriftsteller verdiente, war es nur eine Frage der Zeit … Ich wusste, ich musste dieses Buch schreiben. 2009 habe ich die ersten Interviews geführt und die bereits existierenden Bücher zum Thema als Hintergrundrecherche durchgearbeitet. Dann habe ich mich sieben Jahre lang reingekniet und bin immer, wenn Zeit und Geld es zuließen, rüber nach Berlin, um weitere Interviews zu führen und zu recherchieren.

Was waren die größten Schwierigkeiten beim Schreiben des Buches?
Tim: Nun, einmal musste ich als Gegenleistung für ein Interview mitten im Winter auf einem Bauernhof am Arsch der Heide im verschneiten Brandenburg bei -20 Grad Holz hacken … Aber Spaß beiseite; ich glaube, die größte Herausforderung bestand darin, die Protagonisten aufzuspüren und, in einigen Fällen, davon zu überzeugen, mit einem Ami bzw. einem Außenseiter zu sprechen. Viele DDR-Punks sind Outsidern gegenüber nämlich verdammt misstrauisch. Zum Glück konnte ich auf die Unterstützung einiger ehemaliger Szenemitglieder zählen, ohne die dieses Buch niemals zustande gekommen wäre. Eigenartigerweise verwandelte sich mein Außenseitertum im Laufe der Gespräche oftmals in einen Vorteil, wenn meine Interviewpartner erstmal begriffen, dass ich mich dem Thema aus einer Richtung nähere, die für sie in Ordnung ging. Zudem war es für einige Leute auch einfacher, sich mit mir als Außenstehendem über die Vergangenheit zu unterhalten, da es keine persönliche Geschichte zwischen uns gab und ich die Szene auch auf eine andere Weise, aus einer Art Vogelperspektive, betrachtete.

Gab es auch Leute, die nicht mit dir sprechen wollten?
Tim: Nur eine Person. Derjenige war in der DDR als Inoffizieller Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig gewesen und führte später ein Leben in religiöser Askese.

Hast du selbst eigentlich einen Punkhintergrund? Im Buch beschreibst du deine Arbeit als DJ in Berlin, sodass ich annehme, du kommst in musikalischer Hinsicht von einer anderen Baustelle. War das vielleicht auch ein Grund dafür, warum es in Warteraum nicht allzu oft um die eigentliche Punkmusik geht?
Tim: Ich habe mich selbst nie als Punk gesehen, aber Punkmusik gehörte stets zu meinem musikalischen Spektrum. Mein erster Berührungspunkt war die T.S.O.L. – s/t 7“ EP mit dem Song „Property Is Theft“, von der aus ich mich dann nach hinten zu Black Flag und den Pistols durchgearbeitet habe. Da ich in der Nähe von DC aufwuchs, war ich natürlich auch auf einigen Fugazi-Shows. Punk als Philosophie hat mich stark beeinflusst, aber musikalisch stehe ich mehr auf Indie, um ehrlich zu sein.
Und was die Rolle der Musik im Buch angeht: Der Aspekt, der mich an der DDR-Punkszene am meisten faszinierte, war die Tatsache, dass sie unheimlich viel erreichten, was über die Musik hinausging – sie schafften es, ihre Gesellschaft auf fundamentale Weise zu verändern. Das ist ein ziemlicher Kontrast zu den Musikszenen, über die ich in den USA während meiner Teenagerjahre hörte. Denken wir beispielsweise an die Musikaktivisten der späten 1960er, die niemals auch nur ansatzweise ihr sehr viel bescheidener formuliertes Ziel – den Rückzug der US-Regierung aus dem Vietnamkrieg – erreichten. Nach dem „Summer of Love“ und den anfänglich starken Anti-Kriegs-Protesten wurde trotzdem Nixon wiedergewählt, und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal. Als ich mich dann näher mit der ostdeutschen Punkszene beschäftigte, schien sie mir ein seltenes Beispiel für eine Musikszene mit einem konkreten Einfluss auf eine politische Situation zu sein. Sicherlich, die Musik ist auch wichtig, aber ich sehe Warteraum eher als eine Art Handbuch für den Widerstand innerhalb eines autoritären Systems und nicht so sehr als Musikbuch.

Das ist in der Tat eigenartig. Alle Welt erinnert sich an den „Summer of Love“, aber nur sehr wenige Leute wissen von der DDR-Punkszene. Neulich habe ich meine Eltern darauf angesprochen, die beide Lehrer in der DDR waren, und ihnen dein Buch gezeigt. Sie meinten, nichts davon gewusst bzw. mitbekommen zu haben und gingen sogar soweit, die Authentizität der im Buch gesammelten Schilderungen anzuzweifeln …
Tim: Dann sollten sie vielleicht selbst mal einen Blick in die entsprechenden Stasi-Akten und Unterlagen werfen. Ich glaube, die Unwissenheit in puncto DDR-Punk hat viel mit fehlender Medienpräsenz zu tun. Die Szene existierte in den offiziellen DDR-Medien überhaupt nicht, und aus ideologischen Gründen suchten die Zonenpunks auch nicht die Aufmerksamkeit der Westmedien. Damit war DDR-Punk mehr oder weniger unsichtbar, wohingegen die spätsechziger Bands aus San Francisco sehr präsent in den Medien waren und dank der Unterstützung der Plattenindustrie mit Aufmerksamkeit überschüttet wurden.


Eine praktische Frage: Hast du das Buch erst auf Englisch geschrieben und dann übersetzen lassen oder zumindest teilweise gleich in Deutsch verfasst? Gibt es eine englische Version für das interessierte Publikum aus Übersee?
Tim: Obwohl alle meine Quellen deutsch waren, musste ich es auf Englisch schreiben. Mein Deutsch ist nicht gut genug, um stilistisch das zu Papier zu bringen, was mir vorschwebte. Die englische Version des Buches wird nächstes Jahr erscheinen. Ich glaube allerdings, dass das deutsche Buch die bessere Version sein wird, allein schon wegen der Wirkung der Sprache in den Stasi-Akten und Songtexten.

Da du gerade vom Stil sprichst: Warum hast du das Buch auf diese Weise geschrieben? Warum ist es eine „Story“ geworden, die sich eher wie eine Reportage liest und ganz ohne detaillierte Quellen und Zitate auskommt?
Tim: Du musst die Reaktion der US-Leserschaft bedenken, wenn ich ihnen von der ostdeutschen Punkszene erzähle. „Was?!“, kriege ich da zu hören, „Es gab mal zwei Deutschlands?“ Ein Oral-History-Format, in der ich die Zeitzeugen einfach sprechen lasse, war bei dem anvisierten Publikum einfach undenkbar. Da hätte zu viel erklärt werden müssen. Ich mag viele von den bereits existierenden deutschen Büchern über Ostpunk, und einige von denen waren wichtige Quellen für meinen Text. Aber der Großteil ist von Szene-Insidern geschrieben, die viel Wissen bei den Lesern voraussetzen – sowohl was Begrifflichkeiten angeht, als auch in Bezug auf die Politik und die Lebenssituation der Menschen. Im Buch gibt es jede Menge bisher noch nicht veröffentlichte Berichte und Storys, sodass auch Leute aus der Szene auf ihre Kosten kommen. Eigentlich habe ich Warteraum jedoch mehr für Außenstehende wie mich geschrieben; Menschen, die wenig oder gar nichts über die DDR-Punkszene wissen. Ich finde diese Geschichte so wichtig und inspirierend, dass ich ein Buch schreiben wollte, in das JEDER einsteigen kann, ohne großes Vorwissen.
Außerdem bin ich besessen von der Musikalität der Sprache, und ich wollte, dass das Buch einen Flow hat und nach Rock’n’Roll klingt, mit einer schnellen und direkten Ausdrucksweise, die zu einer Geschichte über Punkrock passt. Bei einem mit Interviewzitaten und Fußnoten zu den Quellen gespicktem Text wäre das Ganze ziemlich inkonsistent geworden und hätte seine Geschwindigkeit verloren. Ich bin zwar bei der Recherche akademisch vorgegangen, aber ich wollte nicht, dass das Buch danach klingt.

Bezugnehmend auf die vorherige Frage: Gab es Leute in den USA, die sich für die Story interessiert haben? Hast du mit Punks, Politniks oder Historikern über das Phänomen DDR-Punk gesprochen?
Tim: Ich habe dieses Buch stets auch als eine Art Richtigstellung der im Westen dominierenden Sicht vom Ende des Kalten Krieges gesehen und deshalb nicht mit vielen US-Amerikanern gesprochen. Eine der wenigen Ausnahmen war die Dischord-Band Soulside, mit deren Mitgliedern ich über ihre Erfahrungen in Ostberlin sprach, da sie vor dem Mauerfall in der Erlöserkirche gespielt hatten. Aber das war’s dann auch schon. Mir ging es darum, die Aktivitäten der Ostpunks und ihre Rolle in der DDR zu dokumentieren – ihren Kampf, ihre Entbehrungen – und nicht diesen typischen Bullshit von Bedeutung und Einfluss der westlichen Popmusik wiederzukäuen.

Was sind deine Erwartungen in Bezug auf die englische Version des Buches? Gibt es eine interessierte Leserschaft in den Staaten?
Tim: Ich bin ziemlich gespannt, wie das Buch hier ankommt. Ich hoffe, dass die Leute die Parallelen dieser Story mit den gegenwärtigen Entwicklungen in den USA erkennen, insbesondere dem Verfall demokratischer Strukturen. Im Endeffekt ist es eine unglaubliche Geschichte, die Schilderung eines Überlebenskampfs, und das sollte eigentlich für viele Leute interessant sein. Ich hoffe also, dass das Buch auch hier in den USA ein Publikum findet und seinen Lesern als Inspiration zum Widerstand dienen kann.

Was ist aus den Ostpunks aus deinem Buch geworden?
Tim: Ihre Geschichten sind alle sehr unterschiedlich. Einige haben immer noch mit Musik oder der Clubszene zu tun, andere haben „normale“ Jobs. Es gibt aber auch einige, denen die Stasi so schwer zugesetzt hat, dass sie sich nie vollständig davon erholt haben.

Ich schätze mal, dass du gut mit dem Begriff „Ostalgie“ vertraut bist. Gab es bei deinen Interviewpartnern Anzeichen für derartige Formen von Nostalgie?
Tim: Unter den ehemaligen Zonenpunks mag es ein paar Neo-Stalinisten geben, aber im Grunde denke ich, dass Ostalgie eher eine legitime Sehnsucht nach der materiellen Kultur der DDR nicht aber eine Sehnsucht nach der politischen Kultur ist. Wenn ich meine Eltern an Weihnachten besuche, kann ich das Waschmittel und das Spüli riechen, mit denen ich aufgewachsen bin, und diese Gerüche vermitteln mir ein wohliges Gefühl, ein Gefühl von Zuhause. Die Ostdeutschen können zwar die Orte aufsuchen, an denen sie aufwuchsen, aber für sie gibt es viele mit ihrem „Zuhause“ assoziierte Gefühle, die sie nie wieder erleben werden. Und diese Situation ist meiner Erfahrung nach in der Lage, eine starke Art von Nostalgie zu bewirken, die ich gut nachempfinden kann.
Was die politische Kultur angeht: Der Großteil der Ostpunks wollte keine Wiedervereinigung. Sie kritisierten das Honecker-Regime von links und wollten etwas Neues aufbauen; ein auf bestimmten Idealen basierendes, unabhängiges Ostdeutschland. Wenn es also eine Art Verlustgefühl gibt – so war es zumindest bei den meisten Punks, mit denen ich gesprochen habe – dann wegen der verpassten Chance, ein neues und ihren Vorstellungen entsprechendes Land aufbauen zu können. Nostalgie in Bezug auf das diktatorische System der DDR habe ich nicht zu hören bekommen.


Kannst du es nachvollziehen, wenn ich kritisiere, dass dein Buch die negativen Aspekte des Lebens in der DDR in den Mittelpunkt stellt? Hat sich deine Perspektive gegenüber der DDR und dieses sozialistischen Experiments durch die Arbeit an diesem Buch verändert?
Tim Mohr: Nein, ich würde nicht sagen, dass sich das Buch auf die negativen Aspekte des DDR-Lebens konzentriert. Im Mittelpunkt steht das Potenzial von Jugendbewegungen, politische und gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Zudem liegt mir angesichts der momentanen Situation in den Staaten nichts ferner, als den Zeigefinger auszupacken. Ich meine, Scheiße, Mann, die ostdeutsche Polizei war nicht in der Lage, mir nichts, dir nichts Leute auf offener Straße zu ermorden, wie es US-amerikanische Cops heute beinahe täglich tun.

Verstehe. Ich glaube, meine Frage war nicht gut formuliert.
Ich versuch’s noch mal anders: Was ich mich beim Lesen von Warteraum oft gefragt habe, war Folgendes: Wie werden Außenstehende, Menschen, die das Leben in der DDR nie selbst erfahren haben, dieses Land nach der Lektüre dieses Buches sehen? Die Antwort ist meiner Meinung nach ziemlich einfach: Es war die Hölle, ein Faschostaat. Und auch wenn das für den Großteil deiner Protagonisten zutreffend sein mag, hatte ich das Gefühl, dass dein Buch das Leben in der DDR recht einseitig darstellt, und zwar als eine komplett widerliche Angelegenheit.
Tim: Ich habe die Geschichten für sich selbst sprechen lassen und meine eigene Meinung nur hin und wieder einfließen lassen, um daran zu erinnern, dass sich die DDR-Bevölkerung in ihrer Grundhaltung nicht von den Menschen anderer Länder, eingeschlossen der USA, unterschied: Der Großteil spielt das Spiel des Systems mit. Leider herrscht bei uns in den USA eine arrogante und vereinfachte Sicht auf den Ostblock vor, gleichzeitig verdrängen wir unsere eigenen Probleme. Ich meine, weiße US-Amerikaner haben gerade einhundert Jahre lang (vom Bürgerkrieg bis zum Civil Rights Act 1964) einfach ihr Ding gemacht, ohne sich an der Tatsache zu stören, dass sie in einem System von offener rassistischer Diskriminierung lebten. Und jetzt, da die massenhafte Überwachung der Bevölkerung durch die eigene Regierung ans Licht gekommen ist, hat der Großteil der Menschen nicht nur kein Problem damit, nein, viele verteidigen derartige Maßnahmen sogar. Worauf ich hinaus will: Die Menschen sind überall gleich und neigen dazu, dem System zuzustimmen, in dem sie leben. Die Leser von Warteraum sollten verstehen, dass die Menschen in Ostdeutschland nicht anders waren als die Menschen in den USA oder anderswo. Das war mir wichtig. Von daher kann ich deiner These nicht zustimmen. Wenn ich ein Buch über die US-amerikanische Polizei schreiben würde, ginge es sicherlich nicht um Cops, die auf Bäume klettern, um Katzen zu retten. Es ginge um das System, das den Cops erlaubt, unbewaffnete schwarze US-Bürger zu ermorden …

Was hast du auf persönlicher Ebene aus der Arbeit an diesem Buch mitgenommen? Irgendwelche großen Lebensweisheiten, tiefgreifenden Einsichten?
Tim: Da fallen mir spontan gleich zwei Sachen ein. Zum einen sind mir bei meiner Rückkehr in die Staaten beklemmende Parallelen zwischen der USA und der DDR aufgefallen – Massenhafte Überwachung, brutale Polizeigewalt, Gleichgültigkeit oder sogar Feindseligkeit gegenüber Protestbewegungen wie Black Lives Matter und Occupy. Und gerade wegen dieser Parallelen finde ich die Story des DDR-Punks auch so wichtig: Von diesen Kids können wir viel über Widerstand lernen, und ich hoffe, dass diese Lehren eine Inspiration für die Leser des Buches (und auch für mich) beim Kampf für die Welt, in der wir leben möchten, sein können.
Die zweite Sache: Ich bin immer wieder aufs Neues fasziniert davon, wie mutig die Ostpunks waren. In der westlichen Welt ist es, wie ich finde, kaum vorstellbar, dass ein 16-Jähriger, nur weil er Stellung bezieht, sein gesamtes Leben ruiniert. Die Kids in der DDR jedoch hatten keine Ahnung, dass die Mauer fallen würde und trotzdem haben sie ihre Zukunft geopfert, um ihre Ansichten zu vertreten. Viele von ihnen wanderten in den Stasi-Knast und haben nach ihrer Entlassung weitergekämpft anstatt einzuknicken. Diese Geschichte und ihre Protagonisten erfüllen mich nach wie vor mit Ehrfurcht.

Besonders beim zweiten Punkt bin ich ganz deiner Meinung. Beim Lesen des Buches habe ich mich oft gefragt, wie es sein kann, dass Kids, die alles für ihre von Punkrock inspirierten Ansichten riskiert haben, nicht die Anerkennung erfahren, die sie verdient haben. Oder anders gefragt: Was ist denn bitte schön punkrock daran, in der westlichen Welt ein Punkrocker zu sein?
Tim: Meiner Ansicht nach haben die Ostpunks keine Anerkennung erfahren, weil sie nicht versuchten, Kontakte in den Westen aufzubauen. Die Kirchenvertreter hingegen haben sehr viel Zeit und Energie darauf verwendet, ihre Kontakte in den Westen zu pflegen und auszubauen, ganz besonders zu den Westmedien. So schufen sie sich ideale Voraussetzungen, um nach der Kolonialisierung des Ostens durch Westdeutschland, die Darstellung und Wahrnehmung der Opposition zu bestimmen. Das Resultat: Die Kirchenleute standen schon in den Achtzigern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und haben die Lorbeeren geerntet und heute tun sie das noch immer. Meiner Meinung nach sollten Leute wie Dirk Moldt, Major und A-Micha Auszeichnungen und Orden für ihre Aktivitäten bekommen, aber stattdessen kann ein Arschloch wie Gauck sich dank seiner Reputation als Bürgerrechtler bis ins Amt des Bundespräsidenten schleimen.

Okay, Tim, damit sind wir auch schon am Ende. Könntest du uns zum Abschluss verraten, wie deine All-Time-Top-Five-Liste aussieht?
Tim: Schwierige Frage, aber gut, hier sind meine Favs:

  • Tocotronic, „Gott sei Dank, haben wir beide uns gehabt“
  • Le Tigre, „Deceptacon“
  • Minor Threat, „Minor Threat“
  • Primal Scream, „Loaded“
  • N.W.A., „Fuck the Police“

Vielen Dank für das Gespräch, Tim.